Die Aufgabe
des historischen Verstehens schließt die Forderung ein,
jeweils den
historischen Horizont zu gewinnen, damit sich das,
was man verstehen will, in seinen wahren Maßen darstellt.
Wer es unterläßt, derart sich in den historischen Horizont zu versetzen,
aus dem die
Überlieferung spricht,
wird die
Bedeutung der Überlieferungsinhalte mißverstehen.
Hans-Georg
Gadamer
Chinesisch - Deutsche Jahres - und
Tageszeiten
Eine Interpretation
Hartmut Kreier
Die intensive Beschäftigung mit der chinesischen Lyrik im Jahre 1827 regte
Goethe zu eigenem Schaffen an, das in dem Zyklus lyrischer Kurzgedichte,
dem einzigen seiner Art bei Goethe und anderen deutschen Dichtern seiner
Zeit, den „ Chinesisch - Deutsche
Jahres - und Tageszeiten “ seine
Gestaltung fand.
Bevor wir uns mit dem Zyklus befassen, ist es erforderlich, den Ort der
Handlung - den Park an der Ilm und das Gartenhaus - und die Motive, die zu
dieser Dichtung führten, kennen zu lernen. Es ist eine umfangreiche
Einführung.
Der Park an der
Ilm in Weimar.
Als Goethe 1776 in das Gartenhaus einzog gab es diesen Park noch nicht. Es
war eine wenig einladende Einöde des Ilmtals, die
Äcker und Wiesen mit halb
verrotteten Zäunen, undurchdringlichem Buschwerk, Floßgraben und
Holzlagerplatz für Baumstämme, die aus dem Thüringer Wald auf der Ilm
herangeflößt, hier ihr Ziel hatten.
Nach der Verzweiflungstat eines Hoffräuleins (Christel von Laßberg, Januar
1778) aus
Liebeskummer, die mit den „Leiden des jungen Werther“ in der
Tasche von Goethes Bediensteten aus der Ilm geborgen wurde, faßte Goethe
den Entschluß, ihr zum Gedenken „ein seltsam Plätzgen“ zu errichten.
Er ließ ein Stück Felsen aushöhlen, von dem man aus ihr letzten Pfade und
den Ort ihres Todes sieht. An der Floßbrücke, heute Naturbrücke, wurde ein
Felsentor und eine Felsentreppe geschaffen, Nadelöhr genannt, und ein Weg
angelegt.
Ein halbes Jahr später verwandelte Goethe zur Feier des Namenstags der
Herzogin Luise, unweit des Nadelöhrs, eine Strohhütte, Schießmauer und
leeren Pulverturm in eine Einsiedelei, Klosterruine und Klosterglocke.
Die
Hofgesellschaft fand Gefallen an dem Platz. Noch heute erinnert das
Borkenhäuschen
daran. Herzog Carl August entwickelte Freude an eigener
gärtnerischer
Gestaltung, so wurde von hier ausgehend bald der linke Ilmhang
in eine
Gartenanlage umgewandelt. Die Geburtsstunde des Parks an der Ilm
hatte geschlagen. Langsam gingen Äcker, Wiesen und Baumgrundstücke in
fürstlichen Besitz über. Carl August ließ roden und pflanzen, Geröll
beseitigen,
dekorative Felsbänder am Steilhang freilegen, Gräben und Fischteiche
zuschütten, Gebäude abreißen, wie das Fischerhaus an der Sternenbrücke.
Er ließ Quellen einfassen, schuf weite Ausblicke, baute Brücken. Er führte
Pfade in sanften Windungen an Grotten und Gedenksteinen vorbei.
Drei Jahre später beauftragte Carl
August Goethe ein Gartenhaus bauen zu
lassen und so zu verfahren, als sei es für ihn selbst.
Es wurde ein in seinen Formen an die klassische antike Architektur
erinnerndes Bauwerk, das Römische Haus, am Steilhang des Ilmufers
gelegen.
Goethes
Gartenhaus
Goethe hat
zu seinem Gartenhaus folgende Verse geschrieben:
Übermütig
sieht’s nicht aus.
Hohes Dach und niedres Haus;
Allen, die daselbst
verkehrt
Ward ein guter Mut
beschert.
Schlanker Bäume grüner
Flor,
Selbstgepflanzter, wuchs
empor,
Geistig ging zugleich alldort
Schaffen, Hegen, Wachsen
fort.
Eckermann beschreibt einen Frühlingstag (22. März 1824) in Goethes Garten
(Text gekürzt und angepaßt) :
„Mit Goethe
vor Tisch nach seinem Garten gefahren.
Die Lage
dieses Gartens, jenseits der Ilm, in der Nähe des Parks, an den westlichen
Abhängen
eines Hügelzuges, hat etwas sehr Trauliches.
Der Stadt
ist man so nahe, daß man in wenigen Minuten dort sein
kann, und doch,
wenn man
umherblickt, sieht man nirgends ein Gebäude oder eine Turmspitze ragen,
die an eine
solche städtische Nähe erinnern könnte; die hohen dichten Bäume des
Parks
verhüllen alle Aussicht nach jener Seite.
Gegen Westen
blickt man frei über eine geräumige Wiese hin, durch welche in der
Entfernung
eines guten Pfeilschusses die Ilm in stillen Windungen vorbeigeht. Jenseits
des Flusses
erhebt sich das Ufer gleichfalls hügelartig, an dessen Abhängen und auf
dessen Höhe
der sich breit hinziehende Park grünt.
Diese
Ansicht des Parks über die Wiese hin gewährt den Eindruck, als sei man in der
Nähe eines
Waldes, der sich stundenweit ausdehnt. Man fühlt sich in den Frieden tiefer
Natureinsamkeit
versetzt.
Aus solchen
Träumen gänzlicher Abgeschiedenheit erweckt uns jedoch das
gelegentliche
Schlagen der Turmuhr, das Geschrei der Pfauen von der Höhe des Parks
herüber. Zu
gewissen Tages- und Jahreszeiten sind diese Wiesenflächen nichts weniger
als einsam.
Bald sieht man Landleute, die nach Weimar zum Markt gehen und von dort
zurückkommen,
bald Spaziergänger aller Art längs den Krümmungen der Ilm.
Sodann die Zeit der Heuernte belebt diese Räume auf das heiterste.
Hinterdrein
sieht man weidende Schafherden, auch wohl die stattlichen
Schweizerkühe
der nahen Ökonomie.
Wir traten
in die Nähe des Hauses. Die weißabgetünchten
Außenseiten sah ich ganz
mit
Rosenstöcken umgeben, die, von Spalieren gehalten, sich bis zum Dache
hinaufgerankt
hatten.
Goethe
sagte, daß er in früheren Jahren hier eine ganze Zeit
mit Freuden gewohnt
und sehr
ruhig gearbeitet habe.
Bald jedoch
kehrte unsere Aufmerksamkeit auf die uns umgebende nächste Natur
zurück.
Die
Kaiserkronen und Lilien sproßten schon mächtig, auch
kamen die Malven zu
beiden Seiten
des Weges schon grünend hervor. Der obere Teil des Gartens, am
Abhange des
Hügels, liegt als Wiese mit einzelnen zerstreut stehenden Obstbäumen.
Wege schlängeln sich hinauf, längs der Höhe hin und
wieder herunter. Oben an der
Hecke fanden
wir eine Pfauhenne, die vom fürstlichen Park herübergekommen zu sein
schien;
wobei Goethe mir sagte, daß er in Sommertagen die
Pfauen durch ein
beliebtes
Futter herüberzulocken und herzugewöhnen pflege.
An
der anderen Seite, den sich schlängelnden Weg herabkommend, fand ich von
Gebüsch
umgeben einen Stein mit den eingehauenen Versen des bekannten Gedichtes:
Hier im Stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten .
Ganz nahe dabei kamen wir zu einer Baumgruppe und
befanden uns
wieder an dem Hauptwege in der Nähe des Hauses. Die Bäume bilden hier einen
Halbkreis, den innern Raum grottenartig
überwölbend, worin wir uns auf kleinen
Stühlen setzten, die einen runden Tisch umgaben.
Die Sonne war so mächtig, daß der geringe Schatten
dieser blätterlosen Bäume
bereits als eine Wohltat empfunden ward. „Bei großer Sommerhitze",
sagte Goethe,
„weiß ich keine bessere Zuflucht als diese Stelle. Ich habe die Bäume vor
vierzig
Jahren alle eigenhändig gepflanzt, ich habe die Freude gehabt, sie
heranwachsen zu
sehen, und genieße nun schon seit geraumer Zeit die Erquickung ihres
Schattens. Das
Laub dieser Eichen und Buchen ist der mächtigsten
Sonne undurchdringlich; ich sitze hier gern an warmen Sommertagen nach
Tische, wo
denn auf diesen Wiesen und auf dem ganzen Park umher oft eine Stille
herrscht,
von der die Alten sagen würden: ‚daß
der Pan schlafe’.“
Hinter dem Gartenhaus führen Stufen den Hang hinauf. Hier war Charlotte von
Steins Lieblingsplatz und ihr widmete Goethe das Gedicht auf einer
Steintafel,
das mit den Versen beginnt:
Hier
im Stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten;
Heiter sprach er zu mir : Werde mir Zeuge, du Stein !
Doch erhebe dich nicht, du
hast noch viele Gesellen;
Jedem Felsen der Flur, die
mich, den Glücklichen nährt,
Jedem Baume des Walds, um
den ich wandernd mich schlinge :
Denkmal bleibe des Glücks ! ruf’ ich ihm weihend und froh.
Doch die Stimme verleih’ ich nur dir, wie unter der Menge
Einen die Muse sich wählt,
freundlich die Lippen ihm küßt.
Die Einsamkeit seines Gartenhauses verstärkten
dieses eigentümlich,
mystische Band seiner Beziehung zu Charlotte. So lebte er im Geiste mit ihr
und bei ihr, selbst wenn er entfernt war. Den gesellschaftlichen Pflichten
kam
er nur so gerade nach, aber Leben war für ihn nur mit Charlotte.
Sehen konnte er von hier aus das Haus in dem sie lebte. Gärtner halten
heute
eine Schneise durch die Bäume frei, so daß das
rote Dach sichtbar wird.
1700 Liebesbriefe schrieb er ihr. Der Zauber dieser Frau muß ungeheuerlich
gewesen sein, sonst ließe sich kaum erklären, warum Goethe ihr so unendlich
zugetan war. Seine Liebesgedichte an Lida sind mit die schönsten, die er
schuf. Er konnte sie veröffentlichen, niemand wusste, daß
Charlotte gemeint
war. Die einzigartige Wertschätzung bezeugt das Gedicht „Zwischen beiden
Welten“, das Goethe im hohen Alter veröffentlichte.
Zwischen beiden Welten
Einer Einzigen
angehören,
Einen Einzigen
verehren
Wie vereint es Herz
und Sinn !
Lida ! Glück der
nächsten Nähe,
William ! Stern der
schönsten Höhe,
Euch verdank ich,
was ich bin;
Tag’ und Jahre sind
verschwunden,
Und doch ruht auf
jenen Stunden
Meines Wertes
Vollgewinn.
Der Text in chinesischen
Schriftzeichen:
两个世界之间
倾心惟一的一个女人,
敬重惟一的一个男人,
这多有益于心与脑的谐和!
莉达 ---- 近在身边的幸福,
威廉 ---- 天空最美的星辰,
多亏了你们,我才成为我。
无数的岁月已经匆匆消遁;
然而我获得的全部的价值,
都来自和你们共处的时辰。
Zwei Menschen verdankt er, was er ist : Charlotte
von Stein und William
Shakespeare. Zwölf Jahre lebte Goethe mit ihr in einer spirituellen Lebens-
und Liebesgemeinschaft.Goethes Beziehung zu
Christiane Vulpius (1765-
1816) war völlig
anderer Art und Natur, auf Wirkliches gegründet, das
Erotische eingeschlossen. Auf dem Bild Christiane mit dem gemeinsamen
Sohn August. Christiane stellte sich auf Anweisung ihres Bruders im
Park an der Ilm als Bittstellerin mit einem Gesuch zur Unterstützung ihrer
Familie dem gerade aus Italien heimgekehrten Goethe in den Weg. Dieser
nahm das naiv kindliche, sinnlich reizende 23 jährige Mädchen in sein
Gartenhaus auf und machte sie zu seiner Geliebten. Fast ein Jahr blieb
dieses
Liebesnest für die Weimarer Bürger unbemerkt. Als Goethe sie nach 18
Jahren heiratete, wurde sie nicht vom Adel anerkannt, so daß
Goethe gesellschaftlich in zwei getrennten Welten leben mußte.
Ein
anrührendes Gedicht zum 25. Jahrestages ihres
Zusammenseins widmete
Goethe seiner Frau.
Es weist auf den Ort und die Zeit ihrer ersten Begegnung hin.
Gefunden
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.
Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?
Ich grub's mit allen
Den Würzlein aus.
Zum Garten trug ich's
Am hübschen Haus.
Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.
Der Text in chinesischen
Schriftzeichen:
发 现
在一片树林中
我信步往前行,
无意寻找什么,
全然漫不经心。
我见一朵小花
开放在树之阴,
美丽如同明眸,
晶莹好似星星。
我欲将花采摘,
花儿发出怨声:
难道将我摘去,
任我枯萎凋零?
我将花儿刨出,
连带所有的根,
把它带回家中,
移进美丽园庭。
如今它生长在
一个青幽环境,
依旧枝繁叶密,
依旧花朵茂盛。
Am 12. Mai
1827 fährt Goethe überraschend in sein Gartenhaus.
Ein
Zeitgenosse berichtet :
„ Irgend ein unangenehmer häuslicher Vorfall, eine kleine
Familienszene, machte
Goethe
verdrießlich, und er sprach diesen Verdruß, zum
höchsten Erstaunen des
Hofes und der
ganzen Stadt, dadurch aus, dass er urplötzlich, vom raschesten
Entschlusse
getrieben, seine Wohnung mied und das kleine Gartenhaus am Park
bezog. Mit
diesem völlig unerklärlichen Wechsel des
gewohnten Aufenthaltes war
denn auch der Wille : allein und ungestört zu bleiben, entschieden
ausgesprochen.
Hab ich mir’s nur eingebildet, oder hatte der unerforschliche Greis
im ländlichen
Häuschen andere
Formen angenommen, - mir erschien er, als ich mich dort einfand,
zugänglicher,
milder und mitteilender.
Als ich ihm das
Erstaunen schilderte, in welches diese
seine Übersiedelung Weimar
versetzt habe,
sagt’ er mit einem fast wehmütigen Ausdruck: „Wir haben hier in
diesem
Gartenhäuschen tüchtige Jahre verlebt; und weil es denn mit uns sich auch
dem Abschluß nähert, so mag sich die Schlange in den Schwanz
beißen, damit es
ende, wo es
begonnen.“
Es war wohl ein Zustand der Melancholie, welcher den 77 jährigen Goethe
hierzu veranlasste. Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit er nach
Weimar kam. Fast alle Freunde, die ein hohes Amt am Hofe hatten oder
bedeutend für das Herzogtum waren, sind tot. Herder (1744-1803), Schiller
(1759-1805), Wieland (1733-1813), auch Anna Amalia (1739-1807) und
schließlich seine Frau Christiane (1765-1816).
Im Januar dieses Jahres war
Charlotte von Stein gestorben, erst 10 Tage
später traute man sich es ihm zu sagen. Aber es lebten,
außer Carl August
und der Herzogin Luise, noch ein Freund, der Urfreund Knebel, durch den die
Freundschaft mit Carl August zustande kam.
Hier im Garten entstehen Mai bis Anfang Juni vierzehn Gedichte des Zyklus,
dem wichtigsten Ergebnis von Goethes Beschäftigung mit China.
Zum Inhalt : Der Dichter, in der Rolle eines hohen chinesischen
Staatsbeamten zieht sich aus Staatsgeschäften und Politik zurück in den
privaten Raum des Gartens, erlebt noch einmal im Aufblühen der Natur eine
Erinnerung an seine Liebesbeziehungen : Sehnsucht, Hoffnung, Erfüllung und
Verlust. Im zweiten Teil des Zyklus geht dieses Wiedererleben in allgemeine
Anschauungen und Reflexionen über, die das Gesetzmäßige in der Natur
auch für die eigene Situation als Trost und neues Glück erfahrbar machen.
Der Zyklus wird wie ein Traum durchlebt, bis am Schluß
die Gesellen
auftauchen und den Mandarin in die Wirklichkeit zurückrufen.
Die
Jahreszeiten werden erlebt, von den Tageszeiten spielt nur der Abend
eine Rolle.
Erst vor dem Hintergrund der Farbenlehre und der Morphologie erschließt
sich
der Zyklus ganz, aber so umfassend werde ich ihn
nicht erläutern.
Zahlreiche
Interpretationen unterschiedlichster Deutung des Textes gibt es.
Goethe selbst empfiehlt :
Im
Auslegen seid frisch und munter !
Legt ihr’s nicht aus, so
legt was unter.
CHINESISCH – DEUTSCHE
JAHRES- UND TAGESZEITEN
I
Sag', was könnt' uns Mandarinen,
Satt zu herrschen, müd zu dienen,
Sag', was könnt' uns übrigbleiben,
Als in solchen Frühlingstagen
Uns des Nordens zu entschlagen
Und am Wasser und im Grünen
Fröhlich trinken, geistig schreiben,
Schal' auf Schale, Zug in Zügen?
Der Text in chinesischen
Schriftzeichen:
中德四季晨昏杂咏 (十四首)
一
疲于为政,倦于效命,
试问,我等为官之人,
怎能辜负大好春光,
滞留在这北国帝京?
怎能不去绿野之中,
怎能不临清流之滨,
把酒开怀,提笔赋诗,
一首一首,一搏一搏。
Mandarin ist allgemein die europäische Bezeichnung für
hohe chinesische
Beamte der Mandschudynastie (1644-1911). An Frühlingstagen
tranken die
Mandarine Pekings Tee oder Wein am Wasser des
Kunming-Sees und
schrieben geistige Poesie im Grünen, beim Sommerpalast
des Kaisers. Die
Mandarine mussten vor ihrer
Beamtenlaufbahn drei kaiserliche Prüfungen bestehen.
Die geprüften Fächer
warenhauptsächlich Philosophie, Literatur und
Kalligraphie. Die Mandarine
konnten daher geistig schreiben, waren zugleich
Dichter und Philosophen.
Beim Trinken verfassten sie ihre Verse, wie es bei
Goethe heißt : Schal’ auf
Schale, Zug in Zügen.
Die Schale
ist ein typisch chinesisches Trinkgefäß aus Porzellan.
Der Staatsminister Goethe fühlt sich wie ein Mandarin.
Er ist im Dienste Carl
Augusts müde geworden und will nun im wunderschönen
Frühling fröhlich
trinken und dichten.
Unter Norden ist Peking / Beijing auf
deutsch „Nordhauptstadt“ zu verstehen.
Der Mandarin Goethe spricht zu einem anderen, nicht
körperlich anwesenden,
Mandarin. Es könnte der noch lebende Knebel sein.
Knebel hatte während
Goethes Aufenthalt in Italien im Gartenhaus gewohnt.
Die beiden
Schlussverse bilden eine chinesische Kreuzstellung. „Schal'
auf Schale“
bezieht sich auf „Fröhlich trinken“ und „Zug in Zügen“ auf
„geistig
schreiben“.
II
Weiß wie Lilien, reine Kerzen,
Sternen gleich, bescheidner Beugung,
Leuchtet aus dem Mittelherzen,
Rot gesäumt, die Glut der Neigung.
So frühzeitige Narzissen
Blühen reihenweis im Garten.
Mögen wohl die guten wissen,
Wen sie so spaliert erwarten.
二
白如百合,洁似银烛,
形同晓星,纤茎微曲,
蕊头镶着红红的边儿,
燃烧着一腔的爱慕。
早早开放的水仙花
在园中已成行成排。
好心的人儿也许知晓,
它们列队等待谁来。
Leuchtet aus
dem Mittelherzen, Rot gesäumt, die Glut der Neigung.
In China
wird die Narzisse zum Frühlingsfest zur Blüte gebracht,
sie ist
daher auch ein Symbol für Glück im neuen Jahr.
III
Ziehn die Schafe von der Wiese,
Liegt sie da, ein reines Grün;
Aber bald zum Paradiese
Wird sie bunt geblümt erblühn.
Hoffnung breitet lichte Schleier
Nebelhaft vor unsern Blick:
Wunscherfüllung, Sonnenfeier,
Wolkenteilung bring' uns Glück!
三
羊群离开了草地,
惟剩下一片青绿。
可很快会百花盛开,
眼前又天堂般美丽。
撩开轻雾般的纱幕,
希望已展露端倪;
云破日出艳阳天,
我俩又得遂心意。
Sonnenfeier, diesen Brauch zur Mittsommernacht, vom 23. zum 24. Juni,
dem St. Johannistag, hat Goethe 1804 ausführlich beschrieben.
Er spricht von den „Lustflammen auf den Bergen“.
IV
Der Pfau schreit hässlich, aber sein Geschrei
Erinnert mich ans himmlische Gefieder,
So ist mir auch sein Schreien nicht zuwider.
Mit indischen Gänsen ist's nicht gleicherlei,
Sie zu erdulden, ist unmöglich:
Die hässlichen, sie schreien unerträglich.
四
孔雀虽说叫声刺耳,
却还有辉煌的毛羽,
因此我不讨厌它的啼叫。
印度鹅可不能同日而语,
它们样子丑叫声也难昕,
叫我简直无法容忍。
Der Pfau war im
18. Jahrhundert aus China nach Europa gekommen
und ab 1783 auch in
Weimar.
Was Goethe mit den
indischen Gänsen meint, ist nicht bekannt.
Eine Erklärung wäre
„westindische“ Gänse, also Truthähne, die aus Westindien,
aus Amerika stammen und zur Goethezeit in der
Gegend
von Weimar
angesiedelt waren.
(Meleagrididae aus Mexiko. Truthühner nach 1534 in
Deutschland.
Carl v. Stein an
Charlotte v. Stein, aus Großkochberg, 15.3.1799)
V
Entwickle deiner Lüste Glanz
Der Abendsonne goldnen Strahlen,
Lass deines Schweifes Rad und Kranz
Kühn-äugelnd ihr entgegen prahlen.
Sie forscht, wo es im Grünen blüht,
Im Garten, überwölbt vom Blauen;
Ein Liebespaar, wo sie's ersieht,
Glaubt sie das Herrlichste zu schauen.
五
迎着落日的万道金光,
炫耀你情爱的辉煌吧,
勇敢地送去你的秋波,
展开你斑斓的尾屏吧。
在蓝天如盖的小园中,
在繁花似锦的绿野里,
何处能见到一对情侣,
它就视之为绝世珍奇。
Hier wird die
Grenze der Verständlichkeit von Goethes Altersstil erreicht.
Auch wiederholtes
Lesen macht den Text nicht unbedingt einleuchtender.
Eine Vertauschung
der 2. und 3. Zeile erleichterte mir das Verstehen.
„Kühn-äugelnd“ ist
eine Anspielung auf das Pfauenauge im Gefieder.
Bei Goethe bedeutet
äugeln flirten.
In China
versinnbildlicht der Pfau Würde und Schönheit.
Er vertreibt das
Böse und tanzt, wenn er eine schöne Frau sieht.
VI
Der Guckuck wie die Nachtigall,
Sie möchten den Frühling fesseln,
Doch drängt der Sommer schon überall
Mit Disteln und mit Nesseln.
Auch mir hat er das leichte Laub
An jenem Baum verdichtet,
Durch das ich sonst zu schönstem Raub
Den Liebesblick gerichtet;
Verdeckt ist mir das bunte Dach,
Die Gitter und die Pfosten;
Wohin mein Auge spähend brach,
Dort ewig bleibt mein Osten.
六
杜鹊一如夜莺,
欲把春光留住,
怎奈夏己催春离去,
用遍野的荨麻蓟草。
就连我的那株树
如今也枝繁叶茂,
我不能含情脉脉
再把羌人儿偷瞩。
彩瓦、窗棋、廊柱
都已被浓阴遮没;
可无论向何处窥望,
仍见我东方乐土。
Das Haus von
Charlotte ist nur im Winter, wenn das Laub abgefallen ist, zu sehen.
Jetzt am Ende des
Frühlings ist der Blick versperrt. Goethe sieht das Haus wie einen
chinesischen
Pavillon, mit buntem Dach, mit Gittern und Pfosten. Dort bei Charlotte
von Stein fand er
in den ersten 10 Jahren bis zu seiner Reise nach Italien seine
Geborgenheit, sein
geistiges zu Hause, wie 1813 und jetzt 1827 im Osten, in China.
VII
War schöner als der schönste Tag,
Drum muss man mir verzeihen,
Dass ich sie nicht vergessen mag,
Am wenigsten im Freien.
Im Garten war's, sie kam heran,
Mir ihre Gunst zu zeigen;
Das fühl' ich noch und denke dran
Und bleib' ihr ganz zu eigen
七
她美丽胜过最美的白昼,
有谁还能责备我
不能够将她忘怀,
更何况在这宜人的野外。
同在一所花园中,
她向我走来,给我眷爱;
一切还历历在目,
萦绕于心,我只为她存在。
Hier wird die erste
Begegnung mit Christiane beschrieben. Goethe bittet um
Verzeihung, nicht
bei den Weimarer Bürgern, sondern bei einem Mandarin. Der Adel
hatte seine Frau
nie akzeptiert und kein Verständnis für Goethes Heirat gezeigt. Daß
Goethe jetzt hier
im Garten sitzen kann, verdankt er seiner Frau. Sie hatte sich dem
Verkauf des
Gartenhauses widersetzt.
VIII
Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh';
Schwarzvertiefte Finsternisse
Widerspiegelnd ruht der See.
Nun im östlichen Bereiche
Ahn' ich Mondenglanz und -glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Lunas Zauberschein,
Und durchs Auge schleicht die Kühle
Sänftigend ins Herz hinein.
八
暮色徐徐下沉,
景物俱己远遁。
长庚最早升起,
光辉柔美晶莹!
万象摇曳无定,
夜雾冉冉上升,
一地静谧湖水,
映出深沉黑影。
此时在那东方,
该有朗朗月光。
秀发也似柳丝,
嬉戏清溪之上。
柳阴随风摆动,
月影轻盈跳荡。
透过人的眼帘,
凉意沁入心田。
Dieses Gedicht wird
als Höhepunkt des Zyklus und als ein Höhepunkt in Goethes
Alterslyrik
überhaupt angesprochen. Ein chinesisches Element ist die Trauerweide,
die in China
beheimatet ist. Auch der Mond nimmt in der chinesischen Literatur einen
bevorzugten Platz
ein. Der Elfenchor, der den 2. Teil des Faust
eröffnet, ist
weitgehend diesem
Gedicht nachgebildet. So haben wir „Chinesisches“ im Faust.
IX
Nun weiß man erst,
was Rosenknospe sei,
Jetzt, da die Rosenzeit vorbei;
Ein Spätling noch am Stocke glänzt
Und ganz allein die Blumenwelt ergänzt.
九
已过了蔷薇开花的季节,
始知道珍爱蔷薇的蓓蕾;
枝头还怒放着迟花一朵,
弥补这鲜花世界的欠缺。
X
Als Allerschönste
bist du anerkannt,
Bist Königin des Blumenreichs genannt;
Unwidersprechlich allgemeines Zeugnis,
Streitsucht verbannend, wundersam Ereignis!
Du bist es also, bist kein bloßer Schein,
In dir trifft Schaun und Glauben überein;
Doch Forschung strebt und ringt, ermüdend nie,
Nach dem Gesetz, dem Grund Warum und Wie.
一0
世人公认你美艳绝伦,
把你奉为花国的女皇;
众口一词,不容抗辩,
一个造化神奇的表现!
可是你并非虚有其表,
你融汇了外观和信念。
不倦的探索定会找到
"何以" 与 "如何" 的
法则和答案。
XI
"Mich ängstigt das Verfängliche
Im widrigen Geschwätz,
Wo nichts verharret, alles flieht,
Wo schon verschwunden, was man sieht;
Und mich umfängt das bängliche,
Das graugestrickte Netz." --
Getrost! Das Unvergängliche,
Es ist das ewige Gesetz,
Wonach die Ros' und Lilie blüht.
一一
我害怕那无谓的空谈,
喋喋不休,实在讨厌,
须知世事如烟,转瞬即逝,
哪怕一切刚刚还在眼前;
我因而坠入了
灰线织成的忧愁之网。
"放心吧! 世间还有
常存的法则永恒不变,
循着它,蔷薇与百合
开花繁衍。"
Der Mandarin im
Selbstgespräch.
Hier wird der
Winter angedeutet, Tiere fliehen in den warmen Süden oder vergraben
sich. Die blühenden
Pflanzen sind verschwunden, die Natur ist im Winterschlaf und
wirkt wie tot. Aber
das Unvergängliche, die Wiederkehr des Frühlings, beruhigt den
Mandarin.
XII
"Hingesunken alten Träumen,
Buhlst mit Rosen, sprichst mit Bäumen
Statt der Mädchen, statt der Weisen;
Können das nicht löblich preisen,
Kommen deshalb die Gesellen,
Sich zur Seite dir zu stellen,
Finden, dir und uns zu dienen,
Pinsel, Farbe, Wein im Grünen."
一二
我沉溺于古时的梦想,
与花相亲,代替娇娘,
与树倾谈,代替贤哲,
倘使这还不值得称赏,
那就召来众多的童仆,
让他们站立一旁,
在绿野里将我等侍候,
捧来画笔、丹青、酒浆。
Aus seiner
Träumerei wird der Mandarin, also Goethe, von den Gesellen
aufgeschreckt. Es
werden wohl jüngere Freunde sein, wie F. v. Müller und Riemer.
Die 2. und 3. Zeilen
bilden eine chinesische Kreuzstellung. „Statt der Mädchen“
bezieht sich auf
„Buhlst mit Rosen“ und „statt der Weisen“ auf „sprichst mit Bäumen“.
Der Schlussvers gibt auch eine chinesische Situation wieder
„Pinsel, Farbe, Wein im
Grünen“.
XIII
Die stille Freude wollt ihr stören?
Lasst mich bei meinem Becher Wein;
Mit andern kann man sich belehren,
Begeistert wird man nur allein.
一三
为何破坏我宁静之乐?
还是请让我自斟自酌;
与人交游可以得到教益,
孤身独处却能诗兴旺勃。
XIV
"Nun denn! Eh' wir von hinnen eilen,
Hast noch was Kluges mitzuteilen?"
Sehnsucht ins Ferne, Künftige zu beschwichtigen,
Beschäftige dich hier und heut im Tüchtigen.
一四
"好! 在我们匆匆离去之前,
请问还有何金玉良言?" -
克制你对远方和未来的渴慕,
于此时此地发挥你的才干。
Mit dieser
Belehrung endet der Zyklus.
Auszug aus dem Vortrag „ Goethe
und China, Teil 2 “,
gehalten am 19. 11. 2004, (Lichtbilder fortgelassen). Hartmut Kreier .
Bibliographie
:
Jochen Golz
(Hrsg.),1999, Frankfurt a. M. und Leipzig, Goethes Morgenlandfahrten
S. 64-65.
歌德文集 , 第一卷, 诗歌, 杨武能 刘硕良 主编, 杨武能 译,1999, ISBN 7-5434-3610-8